Mittwoch, 17. März 2010

Grundeinkommen in Brasilien

Seit Oktober 2008 findet in Quantiga Velho in
Brasilien, einer ländlichen Gemeinschaft bei Sao
Paulo, ein erstaunliches Projekt statt. Die kleine
Nichtregierungsorganisation ReCivitas zahlt
seit 16 Monaten monatlich ein Grundeinkommen
aus. Zwei Koordinatoren des Projektes, die 28
jährige Bruna Augusto Pereira'und der 33 jährige
Marcus Vinicius Brancaglione dos Santos sind
derzeit auf Europa-Reise und berichten von den
Erfolgen ihrer Arbeit.
ReCivitas versteht sich als Organisation zar Wiederbelebungd
er BürgergesellschaftM. it zwei Projekten,
einer offenen Bibliothek und einer Spielzeugsammlung,
begannens ie 2006 ihre Arbeit in Paranapiacabar,u nd
30 km von Sao Paulo entfernt. Beide Projekte sind
TauschbörsenE. in gelesenesB uch oder gespieltes
Spielzeug kann gegen ein anderes eingetauscht werden.
Aus der Arbeit in Paranapiacabaz ogen die Initiatoren
von ReCivitasv erschiedeneS chlüsseZ. um einen,
dass Vertrauen in Menschen eine wesentliche Voraussetzung
für positive Prozesse ist; zum anderen, dass
den gesellschaftlichen Herausforderungen, Umweltproblemen
und sozialen Ungleichheiten im Wesentlichen
eine tiefgeifende finanzielle Unfreiheit zu Grunde
liegt.
In dieser Zeit stiessen die ReCivitas-Mitarbeiter auf
die Arbeiten des brasilianischen Senators Eduardo
Suplicy zum Grundeinkommen. Es folgte ein Interview
mit Prof. Suplicy, weitere Auseinandersetzungm itbedingungslosen
Grundeinkommen sowie Bolsa
Familia, dem in Brasilien verfassungsrechtlichf estgeschriebenen
Recht auf ein bedingtes Bürgergeld.
Anschliessend stand für fünf ReCivitas-Mitarbeiter die
Entscheidung fest: die Durchführung eines Pilotprojektes
und die Auszahlung eines bedingungslosen
Grürdeinkommens.
Politische Blockaden und mangelndes Vertrauen von
Geldgebern in ein solches Projekt verhinderten, dass
das Projekt in dem rund 1000 Einwohner zählenden
SlädtchenP aranapiacabas tattfinden konnte. Doch einmal
entschlossenl,i essens ich die motiviertenj ungen
Menschen nicht mehr auf-halten. ,,Umso wichtiger, dass
wir zeigen, wie ein Grundeinkommensprojektf i.mktionieren
kann", sagt Marcus. ,Neben dem Projekt und
dem Erfolg vor ft ist eben das unser Anliegen: dass
andere verstehen, dass Kreativität und Mut für das
eigene Leben sich darur entfalten, wenn dafür einRaum
ist."
Und so entscheidet ReCivitas, das Geld, was sie bis
dato in die Verhandlungenm it potentiellenG eldgebem,

mit der Regierung und in Materialien gesteckt haben, in
Zukunft gleich und direkt in ihr Gnndeinkommensprojekt
zu investieren.G eld, das hauptsächlicha us der eigenen
Tasche der ReCivitas-Mitarbeiter kommt.
Da Paranapiacabafü r das kleine Budget zu gross ist,
orientiert sich die Gruppe in der Umgebung. Quantiga
Velho,u nweit Paranapiacabasc heintm it rund 100 Einwohnern
ideal. Eine erste Kontaktaufnahme mit denvor
Ort lebenden Menschen zeigl grosse Skepsis undMisstrauen,
aber zumindest keine vollkommene Ablehnung.
,,Wir sind von Hütte zu Hütte gegangen und haben jeden
einzelnen Einwohner zu einer Venammlung eingeladen",
sagt die studierte Biologin Bruna Augusto Pereira.
Längst nicht alle sind erschienen.U nd nicht jedeq der
bei der Versammlung dabei war, wollte anschliessend
auch ein Grundeinkornmen erhalten.
,,Das Misstrauen war gross", sagt Marcus. ,,Man hat
gedachg wir seien Politiker und wollten die nächste Watrl
gewinnen oder Mafia-Geld waschen." So beginnt das
Projekt zunächst mit nur 27 Teilnehmem. 27 Menschen,
die monatlich 30 Reais erhalten. Umgerechnet sind das
11.50 Euro.
30 Reais, das ist in der Stadt fast nichts. Der Bolsa
Familia Ansatz der Verfassung sieht nttr 22 Reais vor.
Quantiga Velho lieg! auf dem Land. Die Menschen
haben etwas Platz, ein bisschen Land, um selbst etwas
anzubauen. 50 Reais braucht man hier mindestens um
zu leben. Zum ,,Überleben", betont Marcus.
Aber 30 Reais sind hier das entscheidendeM ehr. Bereits
kurz nach der Auszahlung kommt es zu grossen
Veränderungen im Leben der Empfünger. Mit 30 Reais
entsteht für den einen die Möglichkeit, seine ,,informelle"
Arbeit als Landarbeiter aufzugeben, bei der er täglich
16 Stunden arbeitet und dafür einen Euro verdient.
Am Tag. Das Grundeinkommen gibt ihm die Möglichkeit,
die bisher für ihn unerschwinglichen Anfahrtskosten
zu einer besser bezahlten Arbeit mit besseren Arbeitsbedingungen
auf sich zu nehmen. Durch den Zusatzgewinnan
Mitteln und an Zeit karr:. er an seinem Haus
weiterbauen.
Eine Bewohnerin von Quantiga Velho baut einen Hühnerstall
und verkauft fortan Eier an die anderen Bewohner
des Dorfes, die sich den Einkauf nun, mit dem
kleinen Grundeinkommenl,e istenk önnen. Von vielen solcher
Geschichten wissen Bruna und Marcus zu berichten.
Eine direkte Umfrage unter den Projekt-Teilnehmehr at
ergeben, dass rund 28 % des Grundeinkommens in
Lebensmitteli nvestiertw ird,26 % in Kleidung, 14 oÄ
in Schulmaterialienfl ir die Kinder, l0 Yo in Transportkosten.
8 oÄ in Medizin und 6 o% in Baumaterialien.

Monatlich zahlen Bruna und Marcus das Grundeinkommen
aus. Und Auszahlen; das ist durchaus wörtlich
gemeint. Die beiden gehen von Haus zu Haus und
häindigenje dem einzelnen sein Gnurdeinkommen aus.
,Beim ersten Mal wollte uns niemand glauben.", sagt
Bruna. ,,LJnd wo ist der Haken?" Bei der zweiten und
dritten Auszahlung entstand langsarh Verbauen. Und aus
der Verwunderungw urde überschw?inglicheD ankbarkeit.
Doch bei jeder Auszahlung und bei wöchentlichen Besuchena
ller Grundeinkommensempfängevre rsuchend ie
ReCivitas-Mitarbeiter immer wieder eines zu vermitteln:
,,Grundeinkolrunen, das sind eben keing Almosen! Tatsächlich
hat jeder Mensch ein Recht auf ein Grundeinkommen.
Um ein Grundeinkommen zu ermöglichen, haben
die Generationen vor uns hart gearbeitet."
Mit der Zeit gewinnen mehr Bewohner Vertrauen in das
Gnmdeinkommens-Experimeunnt d in die Mitarbeiter von
ReCivitas. ,,Zu jedem Teilnehmer hat sich im Verlauf
des Projektes eine intensive Beziehung entwickelt", so
Bruna. ,Jeder Prozess braucht Zeit." Und so steigt die
Zahl derer, die an dem Projekt teilnehmen möchten.
Nach 4 Monaten nehmen 4l Personen teil, nach 6
Monaten sind es 57. Heute erhalten 65 Menschen in
Quantiga Velho jeden Monat ein Grundeinkommen in
Höhe von 30 Reais. Dieses Grundeinkommen wird bedingungslos
ausgezahlt, d.h. unabhängig von Alteq Geschlecht
oder anderen Kriterien. ,,Die Empflinger müssen
es jedoch wollen", sagt Marcus.
Und ,,Quantiga Velho" muss entscheidend, assj emand
za Quantiga Velho dan gehört. Das ist nämlich nicht
festgelegt durch ein Einwohnermeldeamt urnd durch die
weitläufige Verteilunga uch geographischn icht klarzu fassen.
Stattdessenfi nden in Quantiga Velho seit es das
Gnrndeinkommen gibt regelrnässig Versammlungen statt,
in denen gemeinsame Belange besprochen werden. Zum

Beispiel, ob der oder diese Ztgezogene Teil der Gemeinschaft
ist. Auch über Geschäffsideenu nd gemeinsame
Anliegen wird beraten.
,,Quantiga Velho hat sich stark verändert, seit es das
Grundeinkommen grbt, im Umgang miteinander, in der
gegenseitigen UntersttiEung und Zusammenarbeif' berichtet
Bruna. ,,'Wenn man Hunger hat, dann ist es
schwer, an andere zu denken.(( -
,,Dieses Pilotprojekt ist ein gemeinsamer Lernprozess
von uns allen, den Teilnehmer und den Initiatoren.
Fär mich ganz penönlich ist die trertihrendsteE rkenntnis,
dass das Projekt Menschen nicht zu besserenoder
aktiveren Menschen macht, sondem mehr ermöglicht,
dass sich das, was in jedem ist, entfalten kann."
ln Quantiga Velho soll das Grundeinkommen für die
nächsten Jahre gesichert werden. Das ist eines der
HaupEiele von Bruna und Marcus und einer derGrände,
warum sie in Europa darüber berichten.
,$ontinuität ist von zenr:aler Wichtigkeit für das Projekt",
sagt Marcus. Ein weiteres Ziel ist, das Grundeinkommen
auf 50 Reais anzuheben. Vorher jedoch
sollen noch weitere Grundeinkommensprojektee ntstehen.
,,30 Reais sind dafür ein guter Ansatz. Lieber
mit 30 Reais an vielen Orten und möglichst überall
etwas aufbauen und dann langsam auf 50 Reais anheben."
Von den Erfahrungen n Quantiga Velho nt berichten
bedeutet auch, anderen Mut zu machen, selbst ein
Grundeinkommensprojekzr u wagen.,,Vertraueni n
Menschen ist der Schlüssel", sagen die beiden einhellig
. ,,Vertrauenu, rd: los!"
Benjamin Hohlmann

Webseite von ReCivitas: http://www.recivitas.org.br
Emailadresse der Lritiatoren: recivitas@recivitas.org.br
Aus QUERKOPF April 2010

1 Kommentar:

Marx hat gesagt…

Das ist der richtige Weg. Wenn es Schwellenländer wie z.B. Brasilien nach und nach schaffen Ihrer Bevölkerung ein menschenwürdiges Leben zu führen. Dann arbeiten wir hier in Deutschland an der falschen Front, wenn wir diese Errungenschaft aus dem vorvergangenen Jahrhundert wieder abschaffen wollen, Oder etea nicht???